"Viele Wenige machen ein Viel"- Sozionaturale Räumlichkeiten der Kleinwasserkraft im 19. und frühen 20. Jahrhundert

 

Christian Zumbrägel

Ziel dieses Projekts ist es, die vergessene Geschichte der Kleinwasserkraftnutzung zwischen dem Beginn der Elektrifizierung der Wasserkraft ab den 1860er Jahren und der als „Mühlensterben“ bekannten Phase des Untergangs der Kleinwassermühlen ab den 1950er Jahren zu betrachten. Es geht darum zu zeigen, dass die technologische Innovation der elektrifizierten Wasserkraft keineswegs das Ende der kleinen Mühlen bedeutete. Ihr Fortbestand für einige weitere Jahrzehnte wird im Rahmen des Projektes in seinen technologischen, kulturellen und ökologischen Voraussetzungen und Auswirkungen untersucht.

 

Die Bedeutung der Kleinwasserkraft für die Industrialisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts wurde in der Historiografie lange Zeit unterschätzt. Technik- und Wirtschaftsgeschichtsschreibung tendierten dazu, die Dampfkraftgeschichte überzubewerten und dabei zu übersehen, wie lange sich diese Form der Energiegewinnung im Zeitalter von Kohle und Dampf noch behaupten konnte. Tatsächlich erreichte die konstruktiv-technische Entfaltung und quantitative Verbreitung der Kleinwasserkraftnutzung in vielen Regionen des Deutschen Reiches – so in Preußen, Bayern und Baden – erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt.

Technologische Innovationen verhalfen der Wasserkraft ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu neuen Anwendungsgebieten. Die uneffizienten, mechanisch arbeitenden Wasserräder wurden mehr und mehr durch effizientere Turbinen ersetzt, die an Generatoren gekoppelt elektrischen Strom erzeugten. Die für die vorindustrielle Wasserkraftnutzung charakteristische und unumgängliche „Gebundenheit an die Scholle“, die Umsetzung der kinetischen Energie des Flusses in mechanische Arbeit direkt am Ort der Energieproduktion, konnte nun überwunden werden, indem der gewonnene hydroelektrische Strom mittels Stromleitungen von der unmittelbaren Umgebung des Fließgewässers abgeleitet wurde.

Im Zuge dieses Elektrifizierungsprozesses der Wasserkraft wurde die „weiße Kohle“ in vielen Regionen zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Um die Jahrhundertwende entwickelte sich die Wasserkraftnutzung zum neuen Experimentierfeld vieler Wasserbau-Ingenieure: innovative, hydroelektrische Großprojekte – Talsperren, große Laufwasserkraft- und Pumpspeicherwerke – sprossen vielerorts aus der Landschaft. Diese Großbauten mit Prestigecharakter kennzeichneten den zeitgenössischen Diskurs um die zukünftige Energienutzung und wurden als ressourcenschonende und schier unerschöpfliche Energiequellen gefeiert. Die Geschichtsschreibung hat diesen Trend bis heute fortgeführt: Sofern die Wasserkraftnutzung in den einschlägigen Werken zur Elektrifizierungsgeschichte überhaupt zum Gegenstand historischer Forschungen erhoben wurde, so im Kontext dieser innovativen Großprojekte. Die Kleinwasserkraft ist mit der Betrachtung der Elektrifizierung der Wasserkraft zusehends aus dem Blickfeld geraten, sodass die Forschung den Eindruck erweckt, dass die „alten“ Kleinwassermühlen, die das Kulturlandschaftsbild bereits über Jahrhunderte prägten, im Zuge dieser Entwicklung untergegangen sein müssten.

In Anlehnung an David Edgertons Werk „The Shock of the Old“ werde ich im Rahmen dieses Projektes prüfen, ob das Aufkommen dieser Wasserkraftgroßprojekte überhaupt mit einer Verdrängung der altbewährten Kleinwasserkraftanlagen einherging. So ist zu vermuten, dass diese traditionellen Technologien beim Übergang ins 20. Jahrhundert – also bereits kurz nach ihrem Zenit – nicht gleich wieder von der Landkarte verschwanden, sondern in ihrer Funktion noch einige Zeit erhalten blieben und dabei ihrerseits eigenständige Entwicklungsschritte durchlebten. Vor diesem Hintergrund werde ich der These nachgehen, dass neben den sich mit der Elektrifizierung etablierenden großangelegten Wasserkraftprojekten zur Stromversorgung ganzer Landstriche viele kleine und kleinste Anlagen der Wasserkraftnutzung weiterexistierten, deren Kraftentwicklung – sei es in mechanischer oder elektrischer Form – weiterhin vor allem dezentralen Versorgungsinteressen, dem Eigenbedarf oder der Einspeisung in lokale Inselnetze, diente.

Angesichts der Bedeutung lokaler Einflussfaktoren für die frühere Kleinwasserkraftnutzung soll die Bearbeitung des Forschungsdesigns anhand konkreter Fallbeispiele in zwei Untersuchungsregionen durchgeführt werden: dem österreichischen-deutschen Alpengebiet und der Mittelgebirgsregion Bergisches Land/Sauerland. Zur Überprüfung der These werde ich den verschiedenen technologischen, gesellschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen der Kleinwasserkraftnutzung in den Untersuchungsgebieten nachspüren.

Die Technologie Kleinwasserkraft ist an der Schnittstelle zwischen biophysikalisch-materiellen und gesellschaftlichen Einflüssen und Folgewirkungen angesiedelt. Methodologisch bietet sich in diesem Zusammenhang das Konzept des „sozionaturalen Schauplatzes“ an, um das Ineinandergreifen von kulturellen und naturalen Dynamiken zu durchdringen.

Dabei strebt das Forschungsvorhaben eine theoretische Erweiterung dieses Konzeptes an. Mit Blick auf räumliche Bezugsgrößen bleibt eine Untersuchung von „Schauplätzen“ wage: Die räumlichen Dimensionen der Relationen zwischen den Faktoren Kultur, Umwelt und Technik werden nicht hinreichend spezifiziert. Am Beispiel der Kleinwasserkraftnutzung lässt sich veranschaulichen, dass die technikvermittelten Einflüsse und Folgewirkungen nicht nur direkt am Ort der Energieproduktion naturräumliche und kulturelle Veränderungen hervorrufen mussten. Mit der Möglichkeit der Energieübertragung mittels Stromleitungen veränderten sich beispielsweise die räumlichen Dimensionen der Kleinwasserkraftnutzung: Neue Akteure, Unternehmen und Techniken im Hinterland traten nun in den Vordergrund. Die sozialen Beziehungen bewegten sich horizontal vom Fließgewässer weg, damit auch die (soziale) Topografie sowie die Landnutzungsweisen. Demnach gilt es zu diskutieren, ob ein relationaler Raumbegriff helfen würde, die räumlichen Veränderungen zu erfassen, ohne dabei die Zusammenhänge zwischen Kultur, Umwelt und Technik zu vernachlässigen.

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