Eine Topologie des ÖPNV im post-suburbanen Kontext - Toronto und Frankfurt als Fallbeispiele

Christian Mettke

Verkehrsinfrastrukturen sind konstitutioneller Bestandteil und Grundvoraussetzung einer leistungsfähigen urbanen Gesellschaft. In Städten und Stadtregionen nehmen besonders ÖPNV-Systeme eine zentrale Rolle in der alltäglichen Mobilitätsnachfrage ein. Dieser steht vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, politischer Restrukturierungen, sich verändernder Raumstrukturen oder kommunaler finanzieller Engpässe vor enormen Herausforderungen und einem Anpassungsdruck.

In der vorliegenden Arbeit werden die Entwicklungspfade zweier ÖPNV-Systeme vor dem Hintergrund diverser Post-Suburbanisierungsprozesse beschrieben und analysiert. Die ÖPNV-Systeme von Frankfurt und Toronto sind Bestandteil zweier Metropolregionen, die jeweils über ihre traditionellen, administrativen Stadtgrenzen hinaus gewachsen sind. Die zwei Stadtregionen können als Paradebeispiele post-suburbaner Entwicklung (Teaford 1996; Phelps/Wood 2011) gesehen werden, in denen beide zwar oft als der semantische, wirtschaftliche, politische und kulturelle „Kernraum“ der Region gesehen werden, sie aber auch durch ihre umliegenden „suburbanen“ Gemeinden, die ebenso durchgreifend globalisiert sind, als Global City Region (Scott 2002) beschrieben werden können.

Regionalräumlich betrachtet sind beide Stadtregionen polyzentrale urbane Gefüge mit einem dominierenden Zentrum, weiteren wichtigen Subzentren und diversen Zwischenräumen. Das Phänomen der Post-Suburbanisierung kann eng an das Konzept des Post-Fordismus angebunden werden. Ein Symptom der Restrukturierungen des Post-Fordismus, oft beschrieben durch Post-Industrialisierung-, Liberalisierungs- und Deregulierungsprozesse, Individualisierung und Flexibilisierung und die damit verbundene Auflösung klassischer Produktionsmechanismen, ist die Re-justierung urbaner bzw. regionaler Hierarchien, das Aufeinandertreffen tradierter und neuer Prozesse und Konfliktlinien.

Die von Sieverts (2001) eingeführte Zwischenstadt verweist auf dieses Aufbrechen, auf heutige hybride Räume, die weder Stadt bzw. Zentrum, noch Land sind, im städtebaulichen Erscheinungsbild wie auch funktional. Beide globale Stadtregionen sind demnach zunehmend funktional intraregional – vielleicht schon rhizomatisch – verzweigt. Die passende Einheit einer „räumlichen“ sozialen Organisation, im weitesten Sinne, erscheint daher die „regionale Stadtlandschaft“ (Bölling/Sieverts 2004) oder aber auch die Stadtregion.

Generell sind Global City Regions schwer vorstellbar ohne global suburbanization (Keil, 2011), durch die die klassische urban-suburbane Dichotomie aufgebrochen wird. Die funktionale Ausdifferenzierung beider Stadtregionen, durch Post-Fordismus und Post-Suburbanisierung geprägt, hat neben dem nationalen und globalen Wettbewerb zunehmend auch zu einer verstärkten intraregionalen Vernetzung aber auch zu mehr Konkurrenz geführt, die hemmend auf Planungsprozesse wirken kann und für den Entwicklungspfad von ÖPNV-Systemen, so eine These, von zentraler Bedeutung ist.

Die globale Stadtregion Toronto ist mit Abstand die bevölkerungsreichste Agglomeration Kanadas und das Rückgrat der wirtschaftlichen Entwicklung Ontarios sowie wesentlicher Bestandteil der globalen Wettbewerbsfähigkeit Kanadas. Auch die Region Frankfurt-Rhein/Main nimmt eine zentrale, nicht nur finanzwirtschaftliche Bedeutung in Deutschland ein. Wichtige deutsche und europäische Organisationen haben ihren Sitz in Frankfurt, wie etwa die Messe Frankfurt oder die europäische Zentralbank. Globale Marktführer in hochspezialisierten Branchen, wie etwa der Chemie- oder Elektroindustrie haben ihren Sitz in der Rhein-Main-Region, viele in Umlandgemeinden Frankfurts. Aber auch dienstleistungsorientierte Unternehmen, wie etwa die Frankfurter Börse oder Vodafone haben einen Teil ihrer Geschäftstätigkeit, „dezentralisiert“.

Die beiden Metropolregionen unterscheiden sich aufgrund ihrer historischen Entwicklung unter anderem hinsichtlich ihrer Bebauungsformen, der Bevölkerungszusammensetzungen und der institutionalisierten organisatorischen Strukturen deutlich voneinander. Dennoch eignen sich die zwei Regionen mit ihren jeweiligen ÖPNV-Systemen hervorragend, um den techno-urbanen Entwicklungspfad in einem post-suburbanen Kontext näher zu analysieren und dabei die Konvergenzen von und Divergenzen zwischen und innerhalb beider Metropolregionen zu diskutieren. Denn: Öffentlicher Personen(nah)verkehr ist für die räumliche Entwicklung beider Stadtregionen, noch mehr als in anderen Städten weltweit, konstitutiv:

Zum einen werden öffentliche Verkehrsinfrastrukturen in beiden Regionen als Schlüsselvariable wirtschaftlicher Prosperität, sozialer Inklusion und ökologischer Nachhaltigkeit verstanden. Zum anderen drohen aber eben genau diese Infrastrukturen, besonders in Toronto, zum Hemmnis der ökonomischen Konkurrenzfähigkeit und regionalen Integration zu werden (Keil/Young 2008). Ihre gesellschaftliche Bedeutung in Zeiten „regionalisierter Globalisierung“ (Boudreau et al. 2009) hat Verkehrsinfrastrukturen im Allgemeinen und den ÖPNV im Speziellen in das Zentrum politischer Arenen gerückt. Diese können daher kaum als rein fachliche, rein technische/technisierte Systeme verstanden werden, die „unabhängig“ von gesellschaftlichen Prozessen existieren und „Auswirkungen“ auf diese haben (Graham/Marvin 2001: 105). Vielmehr sind sie Bestandteil gesellschaftlicher, politischer Aushandlungsprozesse und Machtstrukturen. Die räumliche Organisation technischer Infrastruktursysteme bildet demnach auch immer gesellschaftliche Machtstrukturen ab, so die Vorannahme.

Die Gefahr in globalisierten, von post-suburbanen Restrukturierungen durchdrungenen Metropolregionen besteht darin, dass vor dem Hintergrund institutionalisierter Neoliberalisierungsprozesse (Keil 2009) die physische Dimension von Verkehrsinfrastrukturen sozial-zentrifugal wirken können (Graham/Marvin 2001) und somit ihre integrativen Potentiale für städtische Gesellschaften ungenutzt bleiben. In der Auseinandersetzung mit den post-suburbanisierten ÖPNV-Regimen beider Fallregionen sind folgende Fragen von Interesse und forschungsleitend.

Zum einen fragt die Arbeit nach Möglichkeiten die Analyse von Transformationspfaden soweit zu operationalisieren, dass neben technischen Entwicklungen, weitere systeminhärente Strukturen und Prozesse, wie etwa die Governance- oder Nachfragestruktur angemessen berücksichtigt werden können. Des weiteren geht sie den konkreten Bedingungen des Entwicklungspfades des öffentlichen Personennahverkehrs in beiden Fallregionen nach. 

Die Diskussion dieser Fragen und Problemstellungen geschieht im Kontext einer postfordistischen, post-suburbanen, regionalisierten und globalisierten Raumentwicklung in den zwei untersuchten Stadtregionen, in denen konkurrierende (globale bis lokale) Interessen aufeinanderstoßen. Öffentlicher Personennahverkehr ist wesentlicher Bestandteil in diesen Aushandlungsprozessen und Machtstrukturen und daher von zentraler Bedeutung für die heutige Entwicklung beider Metropolregionen. So treffen bei Entscheidungsprozessen im ÖPNV-Sektor beispielsweise global-orientierte Wirtschaftsinteressen auf lokale, ökologische Bedenken oder regionale Durchsetzungshemmnisse. Diese lokal verankerten, regional eingebetteten und oft global ausgerichteten Verkehrssysteme sollten heute nicht mehr nur als fixe, ortsgebundene „lokale“ Systeme verstanden werden, sondern vielmehr auch als ein Arrangement von mehrdimensionalen/interskalaren materiellen Strömen und Interessen. Eine Topologie des ÖPNV im post-suburbanen Kontext fragt daher sowohl nach technischen Qualitäten und räumlichen Anbindungsqualitäten (Konnektivität) des physischen Netzwerkes, als auch nach sozialräumlichen, regulativen und politischen Strukturen, Konfliktlinien oder Hemmnissen des ÖPNV-Entwicklungspfades.

 

Literatur

  • Bölling, Lars und Sieverts, Thomas (2004): Mitten am Rand - Auf den Weg von der Vorstadt über die Zwischenstadt zur regionalen Stadtlandschaft; Müller und Busmann ,Wuppertal
  • Boudreau, Julia-Anne; Keil, Roger und Young, Douglas (2009): Changing Toronto – Governing Urban Neoliberalism; UTP, Toronto
  • Graham, Stephen; Marvin, Simon (2001): Splintering Urbanism: Splintering Urbanism – Neworked infrastructures, technological mobilities and the urban condition; Routledge, London/New York
  • Hesse, Markus (2007): Mobilität im Zwischenraum; In: Schöller, O.; Canzler, W.; Knie, A. (Hrsg.): Handbuch Verkehrspolitik; Verlag für Sozialwissenschaften, 1. Auflage, 279-300
  • Hughes, Thomas P. (1987): The evolution of large technological systems; In: Bijker W. E.; Hughes, T. P.; Pinch, T. J. (Hrsg.) (1989): The Social Construction of Technological Systems – New Directions in the Sociology and History of Technology; MIT Press., Cambridge
  • Keil Roger (2011) Global suburbanization: the challenge of researching cities in the 21st century, Public 43, 54–61
  • Keil, Roger (2009): The urban politics of roll‐with‐it neoliberalization, City: analysis of urban trends, culture, theory, policy, action,; Vol. 13 (2-3), 230-245
  • Keil, Roger und Young, Douglas (2009): Fringe explosions: risk and vulnerability in Canada’s new in-between urban landscape; In: The Canadian Geographer / Le Geographe canadien Vol. 53, No. 4, S. 488–499
  • Kooy, Michelle; Bakker, Karen (2008): Splinterd networks: The colonial and contemporary waters of Jakarta; In: Geoforum, Vol.39, 1843-1858
  • Naumann, Matthias (2009): Neue Disparitäten durch Infrastruktur? – Der Wandel der Wasserwirtschaft in ländlich-peripheren Räumen; Oekom Verlag, München
  • Phelps, Nicholas A., und Wood, Andrew M. (2011): The New Post-suburban Politics?; In: Urban Studies; Vol. 48 (12), 2591-2610
  • Scott, Allen (2002): Global City-Regions: Trends, Theory, Policy; Oxford University Press. Inc., New York
  • Sieverts, Thomas (1997): Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land; Vieweg Verlag, Braunschweig

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