Ziel dieses Projektes ist es, die Zusammenhänge zwischen Materialität und sozialem Wandel zu erforschen. Sozialer Wandel wird durch eine Vielzahl von Prozessen beeinflusst und vorangetrieben; in diesem Vorhaben will ich einen Aspekt hervorheben, der mir bisher vernächlässigt erscheint, aber möglicherweise von großer Bedeutung ist: Ich will die Rolle untersuchen, die die materielle Umgebung oder Umwelt einnimmt; will untersuchen, wie sich Alltagswahrnehmungen, -erfahrungen und -praktiken verfestigen und wie sie sich verwandeln. Der Umgang mit der Materialität eines Ortes ist ein körperlicher oder leiblicher Prozess, der sich in Wahrnehmungshandlungen realisiert. Handeln und Wahrnehmen gehen nicht getrennt voneinander vor, das eine bringt immer das andere mit sich. Eine Untersuchung des Zusammenhangs von sozialem Wandel und Materialität muss dies berücksichtigen.
Materialität soll in diesem Projekt nicht als etwas Statisches aufgefasst werden. Im Gegenteil, dem Materiellen oder Körperlichen wohnt eine spezifische Dynamik inne, die sich durch Veränderungs-, Aufbau- und Verfallsprozesse auszeichnet. Diese Dynamik tritt überall zu Tage: Dinge verfallen, wenn sie nicht gewartet werden, anderes sammelt sich und wächst an – an einigen Stellen ist dies deutlicher zu erfahren als an anderen. Der Klimawandel ist in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung: einerseits ist er praktisch nicht wahrnehmbar und nur unter großem technischen Aufwand überhaupt messbar, andererseits wirkt er sich in seinen mittel- und langfristigen Konsequenzen auf eine kaum überschaubare Menge von Aspekten unseres konkreten Alltagslebens aus und stellt insofern eine signifikante Bedrohung dar. Wie nehmen die Menschen in ihrem Alltag auf Erfahrungen Bezug, die als mit dem Klimawandel im Zusammenhang stehend gesehen werden? Wie lässt sich die Materialität und Immaterialität des Klimawandels soziologisch fassen? Auch für diese Bezüge gilt: Wahrnehmen und Handeln gehen ineinander.
Als Untersuchungsgegenstand habe ich eine ostfriesische Insel ausgewählt. Diese Inseln zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie verhältnismäßig akut von einer Erhöhung des Meeresspiegels bedroht sind. Zwar ist die Bedrohung durch den Blanken Hans, die Nordsee mit ihren Sturmfluten, immer Teil des Lebens an der Nordseeküste gewesen, aber möglicherweise bringt der Klimawandel eine neue Qualität in diesen Konflikt zwischen Mensch und Natur – eine Qualität, in der sich beide in ihrer Verflechtung miteinander zeigen, und eine Verflechtung, in der die mehrdeutige Rolle von Technologie beziehungsweise Technik hervortritt.
Auf den ostfriesischen Inseln treten Naturgewalt, Technik, Alltag, Architektur, Arbeit und Erholung in eine enge und vor allem beobachtbare Wechselwirkung. Durch die klare und kleinräumige Topografie der Insel wird es möglich, die verschiedenen sich überlagernden Topologien, die konkurrierenden und sich ergänzenden Muster der Raumaneignung und -beschreibung zu erfassen und zu analysieren. Materialität ist zentraler Bestandteil dieser raumbezogenen Praktiken: Sand und Fussmatten, Wind und Türen und Fenster, Strandspaziergänge und Besuche im Teehaus, Enge und Flirts in der Touristendisco sowie Weite und Einsamkeit auf der Insel außerhalb der Saison, Wellness und Erschöpfung, ArbeitsmigrantInnen und TouristInnen und InsulanerInnen und Zugvögel, Autos auf dem Festland und Pferdekutschen auf der Insel, Sturmfluten und Küstenschutzarbeiten, Müllschiffe und Nationalpark, Mobiltelefone und gezeitenabhängiger Fährverkehr – die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. An diesen Schnittstellen, diesen Faltungen von Topologie und Topografie und von Natur und Technik will ich untersuchen, wie materielle und soziale Dynamik zusammenhängen, welche Konflikte dabei auftreten und welche Rolle das Wahrnehmungshandeln der Menschen in diesem Zusammenhang spielt.
Der Gegenstand ist vielfältig, entsprechend müssen es auch die Untersuchungsmethoden sein. Ich werde ein breites Spektrum qualitativer Methoden in Anspruch nehmen: teilnehmende Beobachtung, Interviews, Autoethnografie, Aufzeichnung und Analyse von Bild, Ton und Video, die Untersuchung von Artefakten – all das wird mit besonderer Aufmerksamkeit für das Subtile und die Details durchgeführt. Eine klare Inspirationsquelle ist die Ethnomethodologie: die Interpretationsangebote der Akteure sollen im Zentrum stehen – ohne dabei aber den weiteren Kontext zu vernachlässigen. Hauptregel für das Vorgehen ist, all das zu untersuchen, was vor Ort und in den Alltagspraktiken relevant ist beziehungsweise relevant gemacht wird.
Die gewonnen Beobachtungen werden mit verschiedenen Theorien konfrontiert – als Ergebnis dieser Konfrontationen soll sowohl Theorie qualifiziert als auch Empirie angereichert und eingeordnet werden können. Um die Breite des Feldes theoretisch fassen zu können, ist es notwendig, die Auseinandersetzung mit sehr unterschiedliche Autoren und Theorien zu suchen: Ulrich Beck, Luc Boltanski, Pierre Bourdieu, Manuel Castells, Michel de Certeau, Alain Ehrenberg, Tim Edensor, Michel Foucault, Harold Garfinkel, Erving Goffman, Bruno Latour, Henri Lefebvre, Lyn Lofland, Karl Marx, Maurice Merleau-Ponty, Andrew Pickering, Richard Sennett, Nigel Thrift und Sharon Zukin – zwischen ihnen liegt das, was in diesem Projekt erforscht wird.
Ein programmatisches Statement zur Erforschung des Zusammenhangs von sozialem Wandel, Wahrnehmung und Materialität: Materialität und soziale Ordnung – Inselgesellschaften im Klimawandel. (2008)
Ein weiteres, frühes programmatisches Statement zu Einordnung und Relevanz des Begriffs Materialität. Verfasst während der Arbeit an meiner Dissertation: Zum begrifflichen Instrumentarium – Dinge und Materialität, Praxis und Performativität. (2004)
Wer sich für die Bewegründe hinter meinem Projekt interessiert, findet vielleicht diese vertonte Präsentation aufschlussreich: Gezeiten und Ströme, Erholung und Erosion – Motivationen. (2007)
Und natürlich mein Buch: Einhüllende Materialitäten. Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals.
Graduiertenkolleg
"Topologie der Technik"
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Marcel Endres
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