Technikinduzierte epistemische Räume

Kaja Tulatz

 

Im Zuge des zuweilen als Forschungsperspektivwende innerhalb der Kulturwissenschaften der letzten drei Dekaden konstatierten spatial turn tritt zunehmend auch die Rede vom Wissensraum in den akademischen Diskurs. Die prominentesten Schriften, auf die dabei verwiesen wird, sind Michel Foucaults Ordnung der Dinge (2009) und Steve Woolgars und Bruno Latours Laboratory Life (1979). Auch Gilles Deleuze‘ und Félix Guattaris Tausend Plateaus (1980) stellen ein Referenzwerk für Überlegungen zum Wissensraum dar. Im deutschsprachigen Raum wurde der Terminus durch den von Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner und Bettina Wahrig-Schmidt herausgegebenen wissenschaftshistorischen Sammelband Räume des Wissens (1996) geprägt. Auch wenn die genannten Referenzautoren durchaus über präzisere Konzepte verfügen, wird im Diskurs des spatial turns der Wissensraum mal als kulturhistorisches Bedingungsgefüge von Überzeugungen (z.B. ‚das christliche Abendland‘), mal als eine in spezifischer Weise ausgezeichnete Stätte genuin wissenschaftlicher Erkenntnis (z.B. ‚das Labor‘) verstandentypo3/#_ftn1. Insofern besteht hier ein begrifflicher Klärungsbedarf, der dieses Promotionsprojekt motiviert.

Im Dissertationsprojekt wird der Topos des epistemischen Raums als Zugriffsschema auf (natur-)wissenschaftliche Praktiken konzeptualisiert. Die Hauptthese ist, dass eine Thematisierung wissenschaftlicher Praktiken angesichts ihrer Relationalität dann notwendig auf Raummetaphern zurückgreifen muss, wenn der Praktik vorgängige Subjekt- und Objektzuschreibungen vermieden werden sollen. 

Wenn man die wissenschaftsphilosophische Rolle wissenschaftlicher Praktiken betrachten möchte, dann verlässt man notgedrungen die Tradition der klassischen (sprach-) analytischen Wissenschaftstheorie, die Wissenschaften auf ihre Theorieförmigkeit reduziert. Alternative wissenschaftsphilosophische Ansätze, die den Handlungs-/ oder Praxisaspekt von (Natur-) Wissenschaften in den Vordergrund stellen bestehen – neben anderen – in so unterschiedlichen Theorietraditionen wie dem klassischen Konstruktivismus und der auf den französischen Wissenschaftsphilosophen Gaston Bachelard zurückgehenden historischen Epistemologie.

Im ersten Kapitel des Hauptteils habe ich einschlägige, den Praxisaspekt von Wissenschaften fokussierende Wissenschaftsphilosophien dahingehend untersucht, welche wissenschaftsphilosophische Rolle sie wissenschaftlichen Praktiken zuweisen. Insbesondere konzentrierte sich meine Untersuchung darauf, den Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen Praktiken und dem epistemischen Raum der Möglichkeit wahrheitsfähiger Aussagen auf der einen Seite und den (materialen) Objekten ihrer Instantiierungen (Sachlagen, Gegenstände, Dinge) auf der anderen Seite zu analysieren. Dabei hat sich der folgende Befund ergeben: In konstruktivistischen Ansätzen wie denen von Hugo Dingler, Klaus Holzkamp und Peter Janich wird die Geltung wissenschaftlichen Wissens durch seine Rückbindbarkeit an (außerwissenschaftliche) Praxen philosophisch begründet. Diese Ansätze sehen es als ihre wissenschaftsphilosophische Aufgabe, Geltungsansprüche von Einzelwissenschaften zu legitimieren oder ggf. in Frage zu stellen. Joseph Rouse bezeichnet diesen Anspruch, „that the place of scientific knowledge in our culture is in need of global interpretive legitimation“ (Rouse 1996: 10), als Legitimationsprojekt. Ein systematisches Problem dieser Ansätze besteht darin, dass sie auf ein stark formalisiertes Handlungskonzept zurückgreifen müssen, dessen Angemessenheit für tatsächliche wissenschaftliche Praktiken fragwürdig bleibt; insofern ist die prozedurale Dimension wissenschaftlicher Praktik bei diesen konstruktivistischen Ansätzen unterbelichtet.

Einen anderen Theoriestrang bilden Ansätze, die – zumindest lose– in der Tradition Gaston Bachelards verortet werden können. Diese stehen dem Legitimationsprojekt skeptisch gegenüber. Dazu gehören, neben Bachelard selbst, so unterschiedliche Positionen wie die von Louis Althusser und Michel Foucault und die Ansätze von Hans-Jörg Rheinberger und Bruno Latour. Eine mitunter naiv anmutenden Wissenschaftsgläubigkeit bei Bachelard und eine geradezu relativistische Auffassung wissenschaftlichen Wissens bei Foucault bilden hier nur zwei Seiten derselben Medaille, die in der Ablehnung des Legitimationsprojekts besteht.

Auffällig ist, dass in der letzten Gruppe von Ansätzen bei der Thematisierung wissenschaftlicher Praktiken durchweg auf topologische Metaphorik zurückgegriffen wird, gelegentlich hier sogar explizit vom Wissensraum die Rede ist (Rheinberger/Wahring-Schmidt/Hagner 1997) oder gar diese räumliche Metaphorik thematisiert wird (vgl Althusser/Balibar 1972: 30, Fußnote 7), während in den dem sogenannten Legitimationsprojekt verpflichteten Ansätzen derartige Redeweisen nicht zu finden sind. Dies motiviert die These, dass eine topologische Redeweise nicht zufällig gewählt wird, sondern mit einer bestimmten Positionierung einhergeht: Die explizite Rede von Wissensräumen verweist dann auf die Bedingungsgefüge, innerhalb derer Wissen allererst konstituiert wird. Diese Gefüge verfügen über spezifische eigene Wissenskriterien und Erkenntnismethoden, die stets bestimmte Erkenntnisalternativen ermöglichen, andere aber verunmöglichen (vgl. Foucault 1994). Wie funktioniert nun eine solche topologisch metaphorische Rede vom Wissensraum? Was kann sie leisten, wo liegen ihre Grenzen? Ist sie, wie Althusser behauptet, notwendig? Mit welchen theoretischen Vorentscheidungen geht eine solche Rede einher? Diesen Fragen geht das Promotionsprojekt nach.

 

Literatur

Althusser, Louis/Balibar, Étienne 1972 [1968]: Das Kapital lesen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix 1997: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Berlin: Merve.

Foucault, Michel 1994: Die Wahrheit und die juristischen Formen. Mit einem Nachwort von Martin Saar. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Foucault, Michel 2009: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften.Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Latour, Bruno/Woolgar, Steve: 1986: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Introduction by Jonas Salk. With a new postscript by the authors. Princeton: Princeton University Press.

Rheinberger, Hans-Jörg/Wahring-Schmidt, Bettina/Hagner, Michael (Hrsg.) 1997: Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin: Akademie-Verlag, 265-279.

Rouse, Joseph 1996: Engaging Sciences. How to Unterstand Its Practices Philosophically. Ithaca/London: Cornell University Press.

 

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