Oliver Honer
Unter dem Schlagwort „Tragödie der Kultur“ entfaltete sich zwischen Georg Simmel und Ernst Cassirer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zentrale Kontroverse innerhalb der Kulturphilosophie. Simmel legte 1911 dar, wie in der metaphysischen Struktur des Kultivierungsprozesses dessen eigenes tragisches Scheitern angelegt sei, worauf Cassirer 1942 entgegenhielt, dass die Kultur viel mehr als Drama zu beschreiben sei und ihre Krisen genau so produktive Kräfte beinhalten, womit diese nicht notwendig ein tragisches Ende nehmen müssen. Kern dieser Kontroverse bildet, wie in vorbereitenden Studien dargelegt werden konnte (Honer 2012), die „kulturelle Logik der Objekte“ (Simmel 1987: 141). Das Dissertationsprojekt möchte nun diesen Begriff ausarbeiten und erst im eigentlichen Sinne zur Diskussion bringen bzw. ihn Cassirers Konzept der Prozesshaftigkeit kultureller Bedeutungsstrukturen gegenüberstellen. Da sich jene kulturelle Logik in Kultursphären realisiert, die im Sinne des simmelschen „Relationismus“ (Bevers 1985) als durch Wechselwirkungen zwischen nach einer bestimmten Formung gebildeten Objekten konstituiert beschrieben werden, kann der relationale Raumbegriff des Kollegs einen geeigneten Zugang zu jener Kontroverse bieten, weshalb hier von „kulturellen Räumen“ gesprochen werden soll. Gerade am Beispiel der Technik kann hierbei die gegenseitige Abhängigkeit von kulturellen Objekten, Räumen und Logiken untersucht und eine Aktua-lisierung der Kontroverse erreicht werden.
1. Forschungsstand
Während Cassirer im Zuge des „Cultural Turn“ eine Renaissance erfuhr und sich größerer Aufmerksamkeit erfreute, hat Simmel zwar als Wegbereiter der Kulturphilosophie Beachtung gefunden, den es jedoch aufgrund von Mängeln seines philosophischen Ansatzes und einer fehlenden Systematik als zu vernachlässigen galt. Es stehen mit den Arbeiten von Bevers (1985), Pohlmann (1987), Geßner (1996a, 1996b, 2003) und Köhnke (1996) zwar durchaus Korrekturen an dieser Fehleinschätzung im Bezug auf Simmel bereit, doch hat sich das Bild innerhalb der Kulturphilosophie bislang noch nicht im Wesentlichen gewandelt. Gefördert wird dies dadurch, dass die Werke Simmels, ebenso wie Arbeiten über ihn, oft nur entweder in der Philosophie oder Soziologie, als deren Vertreter Simmel gleichermaßen gilt, ausführlich rezipiert werden. Gerade im Bezug auf die sogenannte „Kontroverse“ zwischen Simmel und Cassirer um die „Tragödie der Kultur“ führt diese Unausgewogenheit innerhalb der Forschung zu Defiziten. Aufzeigen lässt sich dies bei genauerer Betrachtung des Begriffes „Kontroverse“. Als eine andauernde Auseinandersetzung einander entgegen gerichteter Positionen, meint der Begriff „Kontroverse“ eine aktiv geführte Debatte um einen bestimmten Problemkern herum. Diese Definition scheint aber für das, was gemeinhin als „Simmel-Cassirer-Kontroverse“ bezeichnet wird, bereits deshalb nicht zu passen, weil Simmel und Cassirer nie im strengend Sinne in eine Diskussion eintraten – ihre beiden Aufsätze, die Grundlage jener vermeintlichen Kontroverse bilden, liegen 30 Jahre auseinander. Birgit Recki nutzt hier deshalb den Terminus „virtuelle Kontroverse“. Ich verstehe dies so, dass jene Kontroverse nicht wirklich stattgefunden hat, jedoch in den beiden Positionen grundsätzlich angelegt ist. Diese wiederum bedürfen einer Aktualisierung durch die explizite Ausformulierung, Gegenüberstellung und damit einem Eintritt in eine Diskussion, um tatsächlich zu einer Kontroverse zu werden. Eine solche Aktualisierung ist trotz diverser Veröffentlichung zum Thema bisher nicht geleistet worden. Neben Kritik, die von marxistischer Seite am Konzept der Tragödie vorgebracht wurde (Lieber 1974; Scheible 1980) und Simmel dezisionistisch Tendenzen und Apologetik vorhält, vertreten die meisten Autoren den Standpunkt, dass Cassirers Philosophie diejenige Simmels und damit auch das von ihm aufgeworfene Problem überwinde (vgl. Recki 2000, Peters 2002, Möckel 1996, 1998, Becker 1998 – wobei sich die letzteren beiden vorsichtiger äußern). Es fällt hierbei auf, dass Simmels Position zumeist eine eher knappe Darstellung erfährt, so dass eine eingehendere Interpretation bewusst unterbleibt, um stattdessen bestimmte Elemente an Cassirers Philosophie herauszustellen. Es erscheint jedoch problematisch dem dicht gedrängten Tragödienaufsatz so gerecht werden zu wollen, da die Tragödienkonzeption als stetig wiederkehrendes Element stark in Simmels Gesamtwerk verankert und als dessen Konsequenz zu betrachten ist. Dies führt beispielsweise für Recki zu dem Problem, warum Simmel selbst nicht bereits Cassirers Kritik vorwegnahm (vgl. Recki 2000: 173). So lässt sich aber die Frage stellen, ob die Tragödie bisher überhaupt im vollen Sinne verstanden wurde bzw. ein tieferes Problem zugrunde liegt, als dies Simmels Kritikern bewusst war. Weitere Skepsis an der bisherigen Forschung wird dadurch hervorgerufen, dass in den Veröffentlichungen zur Simmel-Cassirer-Kontroverse praktisch keine Querverweise zu finden sind. Denn wenn die Bezugnahmen auf beide Positionen selbst wiederum unverbunden nebeneinander stehen, haben wir zwar eine Vorarbeit, aber noch keine Kontroverse vor uns – als solche bleibt die vermeintliche Aktualisierung, die ja die Kontroverse erst eigentlich führen soll bzw. die Kontroverse in dem Fall auch selbst ist, selbst wieder bloß virtuell. Auch folgender Aspekt fand bisher, mit Ausnahme vom Geßner 1996a, keine Beachtung: Cassirer bezieht sich in seiner Antwort auf Simmel primär auf die Kultursphären der Kunst, Wissenschaft und Sprache – während Simmel seinerseits primär von Wirtschaft, Religion, Technik, Moral und Recht spricht. Dies wirft die Frage auf, ob die Tragödie und auch die Positionen der beiden Autoren zu dieser in Abhängigkeit zu den jeweils behandelten Kultursphären stehen, wobei selbstverständlich zu allererst der Begriff der „Kultursphäre“ selbst thematisiert werden muss. Hierfür ist ein geeignetes Raumkonzept von Nöten, das Kultur, im Sinne von ontologisch defi-nierten Gegenstandsklassen, und sphärenhafte Begrenzung sowie räumliche Relationalität zusammenbringt. Doch bereits bei der Lektüre von Cassirers Kritik ergeben sich Fragen und Unstimmigkeiten: So scheint sich Cassirer nicht eingehender mit der Veränderung der simmelschen Position über seine drei Aufsätze zu diesem Thema hinweg auseinanderzusetzen. In diesem Licht erscheinen auch einige Cassirers Vorwürfe als Missverständnisse gegenüber Simmel. Zuletzt weist auch die Position Cassirers einen Wandel auf, wobei der Aufsatz Form und Technik (1930) sogar eine gewisse Nähe zum Tragödienkonzept aufweist (vgl. zu all diesen Punkten ausführlicher Honer 2012). Dem Eindruck, den die bisherige Forschung vermittelt, wonach diese Kontroverse zugunsten Cassirers zu entscheiden ist und Simmel hier eher ein Vorläufer Cassirers war, ist demnach zu vehement entgegen zu halten: Die Kontroverse ist bislang noch nicht einmal geführt worden.
2. Die Tragödie der Kultur
Ein Dissertationsprojekt, das eine solche Forschungslücke schließt, könnte sich bereits durch die philosophiegeschichtlichen Bedeutung Simmels und Cassirers legitimieren. Doch erschöpft sich damit das Potential jener „virtuellen Kontroverse“ nicht. Einsichtig wird dies, wenn wir den eigentlichen Problemkern der Kontroverse betrachten. Die „Tragödie der Kultur“ verweist nämlich auf mehr als lediglich „den Status der Werke“ (Hubig 2010): Es geht vielmehr um das Verhältnis, das die Subjekte zu der von ihr geschaffenen Kultur bzw. den einzelnen Sphären dieser Kultur einnehmen, welche Kräfte, welche Objektivität und welche Logik(en) in ihnen verwirklicht sind. Dieses Verhältnis wird von Simmel als ein tragisches bestimmt. Er meint damit
„daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst ent-springen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigenen Positivität aufgebaut hat.“ (Simmel 1987a: 142)
Der Kulturprozess vollzieht sich für Simmel im Dualismus zwischen den wertenden und schöpfenden Subjekten und der objektiven Kultur, d. h. den geschaffenen Kulturgütern. Die Subjekte beziehen hierbei jene Kulturgüter in ihr Leben ein und entwickeln dabei ihre natürlichen Anlagen und „Keimkräfte“ durch diese kulturellen Systeme über einen natürlichen Zustand hinaus. Die Betrachtung erfolgt hier aus der Perspektive von Zwecksystemen, die bereits Züge einer technischen Modellierung der Welt tragen. Der objektive Wert des Kulturgutes bemisst sich dabei durch Stellung und Wechselwirkungen innerhalb einer kulturellen Sphäre und ist dadurch grundsätzlich unabhängig von einem wertenden Subjekt.
„Das Kunstwerk soll nach den Normen der Kunst vollkommen sein, die nach nichts als nach sich selbst fragen und dem Werke seinen Wert geben oder verweigern würden, […] das Ergebnis der Forschung als solches soll wahr sein und absolut weiter nichts [...] Alle diese Reihen verlaufen in der Geschlossenheit rein innerer Gesetzgebung.“ (Simmel 1987a: 130)
Einen Kulturwert stellen diese Güter jedoch erst dann dar, wenn sie sich tatsächlich innerhalb eines Kultivierungsprozesses als fruchtbar erweisen. Eine Technik kann z. B. von einem Individuum in einer spezifischen Situation vollkommen subjektiv bewertet werden. Relational, aber dennoch objektiv, lässt sich der Wert einer solchen Technik hingegen im Bezug auf bestimmte Ziele, Handlungszusammenhänge und ihren Werkzeugcharakter bestimmen. Als Kulturwert kann eine solche Technik aber erst dann gelten, wenn beide Werte zur Integration kommen und so die individuelle Lebenszwecktätigkeit in der geformten Einheit der Person durch die kulturellen Objekte über einen naturhaften Zustand hinaus geführt wird.
„Nun aber entsteht innerhalb dieses Gefüges der Kultur ein Spalt, der freilich schon in ihrem Fundament angelegt ist und der aus der Subjekt-Objekt-Synthese, der metaphysischen Bedeutung ihres Begriffes, eine Paradoxie, ja eine Tragödie werden läßt. Der Dualismus von Subjekt und Objekt, den ihre Synthese voraussetzt, ist doch nicht nur ein sozusagen substanzieller, das Sein beider betreffender. Sondern die innere Logik, nach der jedes von beiden sich entfaltet, fällt mit der des anderen keineswegs selbstverständlich zusammen.“ (Simmel 1987a: 134)
Der Kultivierungsprozess selbst wird durch die historisch stattfindende Entwicklung der objektiven Kultur, die in Teilen in ihrer eigenen Logik angelegt ist, durch die Vermassung und die steigende Komplexität der kulturellen Objekte, ihr immer höher werdender Sachwert, zu einem bestimmten Zeitpunkt behindert. In dieser Situation entwickeln die Subjekte sich nicht mehr selbst in Richtung ihrer Vollendung, sondern bewirken nur noch die Vervollkommnung der objektiven Seite der Kultur. Sie unterliegen den Sachzwängen der objektiven Kultur, die nicht mehr der Kultivierung der Subjekte dient – in diesem Sinne richtet sich die Kultur gegen ihre Schöpfer. Die Tragödie zeigt damit einen gewissen Bezug zu Konzeptionen eines Technikdeterminismus aber auch anderen modernen Theorien zu Technik und Technikentwicklung, da hier eine Form des Technikpessimismus jenseits konkreter Technikfolgen angesprochen ist. Der zentrale Punkt ist nämlich – und bereits dies wurde in der Forschung meist nicht erkannt – das was Simmel die „kulturelle Logik der Objekte“ oder die „immanente Entwicklungslogik“ bzw. „eigene Logik” des „objektive[n] Geist[es]” nennt. Dieses Phänomen muss von psychischen oder physischen Notwendigkeiten scharf geschieden werden – es geht tatsächlich um eine „Sachlogik“ der kulturellen Erzeugnisse. Eine tatsächliche Aktualisierung der Kontroverse, die das Dissertationsprojekt primär leisten soll, muss also diesen Problemkern der kulturellen Logik der Objekte analysieren und die Kontroverse um diesen herum führen, d. h. auch Cassirers Position, die Prozesshaftigkeit und Interpretationsabhängigkeit der Bedeutungskonstruktion von kulturellen Objekten betont, zu diesem Punkt herausarbeiten und Simmel gegenüberstellen.
3. Das Programm einer Aktualisierung
Damit wird auch deutlich, dass die Simmel-Cassirer-Kontroverse nicht irgendeinen Randbereich der Kulturphilosophie markiert, sondern die zentralen Fragen nach dem Funktionieren kultureller Systeme und Sphären, der kulturellen Formung der Subjektivität sowie dem Verhältnis der Subjekte zur Kultur selbst stellt. Sie besitzt dadurch Relevanz nicht nur für die Geisteswissenschaften (als deren Wissenschaftstheoretiker Simmel und Cassirer beide gelten können), sondern auch für die Soziologie. Das heißt aber, dass diese Kontroverse, die ja in ihrer Aktualisierung gerade nicht als reine philosophiehistorische Rekonstruktion von Positionen verstanden werden soll, an zahlreiche moderne Diskussionen aus unterschiedlichen Disziplinen anknüpfen muss. Denn um den Begriff der Logik der Objekte im Bezug zu kulturellen Räumen zu erarbeiten, ist es nötig, die Strukturelemente des Kulturprozesses, also objektive Kultur, kulturelle Formung der Subjektivität und der Sozialstrukturen, subjektive Kultur und Individuum sowie den Begriff der Kultursphären, zu untersuchen. Dies kann gleichzeitig das vorläufige Forschungsprogramm des Dissertationsprojekts bilden: Zunächst ist mit der Diskussion um die Tragödie der Kultur der ontologische Status von kulturellen Gebilden berührt, was natürlich auch die Frage nach dem Gegenstand der Kulturwissenschaften betrifft, oder anders gesagt: Die objektive Seite der Kultur. In welchem Sinne besitzt diese objektive Seite eine fixierte Bedeutung? Handelt es sich um starre, ideale Sinnstrukturen oder muss mit einem Begriff von Sinn gearbeitet werden, der dynamischer angelegt ist, also von Interpretationen, Verschiebungen und Differenzen abhängig ist. In diesem Punkt könnten Konzepte der Rezeptionsästhetik (Iser 1994, Jauß 1994, Hubig 2010) ebenso aber auch der derridasche Begriff der différance von Interesse sein (Derrida 1995, 2004). Daneben gilt es auch den Einfluss jener kulturellen Gebilde auf die Konstruktion der Wirklichkeit zu beachten und zu untersuchen. Für Simmel spielt die historisch gewachsene Form, als in irgendeiner Weise materiell manifestiertes mit Bedeutung geladenes Objekt – hier im weitesten Sinne des Wortes –, die Rolle eines relativen Apriori, das Erscheinungen prägt und hinter jeder Erscheinung aufgespürt und genealogisch zurückgeführt werden kann. Vergleichbar verhält es sich auch bei Cassirer, der in seinem Hauptwerk (2010a, b, c) darlegt, wie durch die sogenannten symbolischen Formen Erlebniswelten konstruiert werden und so auch jeder Weltbezug als symbolisch vermittelt begriffen werden muss. Hier kommen Fragen nach der historischen Formung von Rationalität, Macht und Zwang ins Spiel (vgl. Foucault 1978, 2008, 2010, 2011), die vor allem Relevanz gewinnen, wenn untersucht wird, inwiefern die Individuen kulturellen Logiken unterworfen werden oder auch diesen entgehen können. Eng mit diesem Aspekt verbunden ist die Überlegung, wie konkret nun auch bestimmte kulturelle Objekte, allen voran die Technik, Sozialstrukturen formen, bestimmen oder neu begründen. Wenn hierbei die Technik als soziale Grundkategorie begriffen wird, kann über Hans Lindes „Sachdominanz in Sozialstrukturen“ (1972, vgl. auch Linde 1982) die Brücke zur Techniksoziologie oder auch zu stadtsoziologischen Projekten geschlagen werden. Die begriffliche Arbeit, die in der Aktualisierung der Simmel-Cassirer-Kontroverse geleistet wird, könnte für einen solchen sozio-logischen Ansatz eine philosophische Grundlegung bieten: Wie müssen kulturelle Objekte und Technik begriffen werden, wenn in ihnen bereits Sinnstrukturen verwirklicht sind, die nicht völlig individuellen Definitionen offen stehen bzw. die gar keiner bewusst-aktiven Deutung unterzogen werden müssen? Klar ist, dass Technik – wie auch andere Kulturobjekte – nicht isoliert als Geräte verstanden werden können, sondern hier eine Bestimmung im Sinne des Kollegs als „materielles Dispositiv“ aufschlussreicher ist. Neben objektiver Seite, Subjektivitätsformung und Sozialstrukturen ist aber auch die subjektive Seite der Kultur von Interesse, d. h. die jeweils vom Menschen angeeignete und diesen so bestimmende. Im weitesten Sinne ist hier eine anthropologische Dimension berührt, die sich nicht völlig in dem Erschöpft, was z. B. bei Cassirer in seinen eigenen Anthropologischen Studien unter dem Begriff des animal symbolicum (Cassirer 1996) zusammen läuft. Wenn der Mensch durch seine Kultur bestimmt wird, stellt sich die Frage nach der Bestimmung dieses Verhältnisses, was letztendlich nicht-kulturelles an ihm, seinem Denken und Wesen übrig bleibt oder ob er vollständig hinter seinen kulturellen Erzeugnissen verschwindet. Wo verläuft hier die Grenze zwischen Natur, Kultur und Mensch? Mit der Simmel-Cassirer-Kontroverse zeigt sich ein neuer Strang innerhalb dieser Debatten, der für die neu aufkommende Kulturphilosophie eine noch zu bewältigende Aufgabe darstellt. Die angesprochenen Aspekte stellen hier jedoch keinen Selbstzweck dar, sondern stehen stets im Bezug zum eigentlichen Thema der Kontroverse: Es gilt den Begriff der kulturellen Logik der Objekte herauszuarbeiten, mit dem letztendlich die Vorstellung verknüpft, dass Rationalität nicht unabhängig von Kultur, präziser: von Kultursphären beschrieben werden kann. Jeweilige Kultursphären begründen durch Formungen, gesellschaftliche Verhältnisse und Sozialstrukturen bestimmte Rationalitätstypen, die wiederum Entwicklungen anleiten und damit den gesellschaftlichen wie auch kultursphärenspezifischen Fortgang bestimmen können. Wir gelangen also wieder zu dem Punkt uns mit dem Begriff der Kultursphäre zu beschäftigen. Die Technik bietet hier einen aussichtsreichen Zugang: Als spezifische Kultursphäre bzw. symbolische Form, wird sie von beiden Autoren behandelt, so dass hier die Möglichkeit besteht an einer exemplarischen Kultursphäre die jeweilige Argumentation aufeinander zu beziehen. Während Cassirer seine zentralen Gedanken zur Technikphilosophie in seinem Aufsatz „Form und Technik“ entwickelt, finden sich die Überlegungen Simmels zu diesem Thema über sein Werk verstreut. Bislang mangelt es an einer technikphilosophischen Lesart Simmels, was einen zusätzlichen Anreiz bietet das Thema auf diesem Wege anzugehen. Da Simmel das menschliche zweckbezogene Handeln als Strukturierung der Welt nach Zweck-Mittel-Reihen beschreibt – und hierbei das Werkzeug als eine aktive Bearbeitung und Verfestigung eines solchen Zusammenhangs – lässt sich gerade anhand der Technik die Konstitution einer Kultursphäre nachvollziehen (Simmel 2011). Indem von der Wirklichkeit in ihrer Absolutheit – die für den Menschen als unstrukturiertes Chaos nicht zugänglich ist – gemäß einer bestimmten kulturellen Formung bzw. Perspektive jeweilige Aspekte der Welt herausgegriffen und geordnet werden, entsteht eine Kultursphäre, deren geformte Gegenstände über jene Perspektive miteinander in Wechselwirkung treten. Zwischen der Beschreibung der Kultursphären und der Fassung des Raumes durch das Kolleg als „ein Komplex von Relationen und Relationstypen zwischen möglichen Gegenstands- oder Ereignisklassen, der diese zum einen festlegt, zum anderen aber auch durch Praxis seinerseits auch wieder verändert wird“, besteht deutliche Nähe, da auch in der simmelschen Konzeption ein wechselseitiges Verhältnis der Konstitution von Objekten und Sphäre besteht, so dass wir in diesem Sinne statt von Kultursphären auch von kulturellen Räumen sprechen können. Infrage steht dabei auch, inwiefern es sich bei den Kultursphären um geschlossene Räume handelt, oder ob hier Durchlässigkeit besteht, so dass sich Rationalitätstypen auf bestimmte Kultursphären ausbreiten können, wie von Jean Baudrillard (1992) und Gerhard Gamm (2000) diagnostiziert. Unter dem Paradigma einer solchen Topologie kultureller Objekte, im spezifischen der Technik, kann so versucht werden, das Phänomen der kulturellen Logik der Objekte gerade in Abhängigkeit von einer kulturellen Raumkonzeption zu erfassen und damit auch einer abschließenden Bewertung zu unterziehen, so dass auch eine Klärung der Frage, ob die Kultur tragischer oder dramatischer Struktur ist, erwartet werden kann.
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