Mobilität als sozialtopologisches Forschungsfeld
Mobilität ist jüngst zu einem der zentralen Gegenstände innerhalb der Auseinandersetzung um Raum und Gesellschaft avanciert. Im Spannungsfeld zwischen der technologischen Beschleunigung von Menschen, Waren und Informationen und den unter dem Label der Globalisierung versammelten ökonomisch-kulturellen Entgrenzungsphänomen erscheint Mobilität als eine Schlüsselkategorie bei der Beschreibung veränderter Raumerfahrungen.[i] Zugleich kommt Mobilität innerhalb gesellschaftswissenschaftlicher Raumkonzepte nach wie vor eine eher marginale Stellung zu: „Mobility is more central to both the world and our unterstanding of it than ever bevore. And yet (...) it remains unspecified, (...) a kind of blank space.“Bewegte Topographien – Zur diskursiven Konstruktion von Mobilität in Gesellschaftswissenschaften und sozialer Praxis[ii] Dies entspringt nicht zuletzt dem Umstand, dass Mobilität in der Vergangenheit überwiegend als essentieller Gegensatz zur Denkfigur des gesellschaftlichen Ortes konzipiert wurde. Der Akt räumlicher Bewegung selbst und dessen soziale Bedeutung blieb im transdisziplinären Feld mit der Reduktion auf zweckgebundene Ortswechsel und sozialräumliche Differenzen von Herkunft und Ziel über lange Strecken kategorisch ausgeschlossen.[iii] Zum anderen wird Mobilität im jüngeren Referenzbereich postmoderner Raumentwürfe und soziologischer Theorien des globalen Raums als fluides, nomadisches oder atopisches Kontinuum und damit umgekehrt durch ein Fehlen oder Verschwinden von Ortsbezügen charakterisiert.[iv] An beiden Polen sind es Relationen von Orten und nicht die soziale Phänomenalität der Bewegungen selbst, durch die Mobilitäten charakterisiert werden. Der Gegensatz von Mobilität und Ort ist zugleich das Ergebnis historisch weit zurückreichender Raumdiskurse, die erst seit kurzem einer ideologiegeschichtlichen und wissenssoziologischen Rekonstruktion unterworfen werden.
Ausgangspunkt meines Dissertationsprojektes bildet eine vor allem in den englischen und skandinavischen Gesellschafts- und Kulturwissenschaften kürzlich aufgenommene intensive Auseinandersetzung mit Diskursen um sozialräumliche Sinnhorizonte, die sich zwischen wachsender Mobilität und der Konstitution von Orten aufspannen.[v] Gemeinsamer Bezugspunkt dieser Perspektiven ist die Kritik an jenem „Anachorismus“[vi] von Ort und Mobilität, dessen „metaphysics of fixity and flow“[vii] es theoretisch zu überwinden gilt. Danach verfehlt die Rede von einer Auflösung des gesellschaftlichen Ortes in einem globalen „space of flow“ und dessen konträres Moment eines „space of place“ die irreduzible Bedeutung der Vernetzung von verorteten und mobilen Elementen des gesellschaftlichen Raums. Ebenso erscheint die (teils programmatische, teils sozialtheoretische) Konzeption eines "nomadischen Subjektes" als neuartiger kultureller Phänotyp nur in sehr begrenztem Maße zur Aufhellung des Zusammenhangs zwischen technisch-medialen Transformationsprozessen und mobilen Lebensweisen geeignet.[viii] Mobilitäten müssen vielmehr als hybride gesellschaftliche Strukturen aufgefasst werde, die mit Blick auf die enge diskursive Korrespondenz zwischen kulturellen Praktiken und technologischen Entwicklungen in ihren Wechselbeziehungen mit gesellschaftlichen Orten zu erforschen sind.[ix] Aus den Überlegungen Cresswells, Mobilität als soziales Produkt aufzufassen, leitet sich mein konkretes Anliegen ab, Orte und Mobilitäten als untrennbar verbundene soziale Praktiken (practices of mobility and place) zu analysieren und damit der gesellschaftlichen Beziehung zwischen „mobilisierten Orten“ und „lokalisierten Mobilitäten“, genauer: der gegenseitigen Erzeugung und Transformation von Orten und Mobilitäten besonderes Augenmerk zu schenken.[x]
Das scheinbare Paradoxon „Bewegte Topographien“ löst die Polarität von Ort und Mobilität zugunsten eines konvergenten Begriffes sozialer Räumlichkeit auf. Im Anschluss an die Arbeiten von Massey und Cresswell lässt sich somit eine strikt anti-essentialistische Perspektive auf die räumliche Bewegung von Menschen, Gütern und Informationen zugrundelegen: Mobilitäten sind aus dieser Sicht nicht mehr bloßes Mittel zum Zweck des Verlassens/Erreichens von Orten, sondern als Identitätssphären und praktische Handlungsebenen selbst produzierte und zugleich produktive soziale Räume.[xi] Orte stellen keine räumlich fixierten „sozialen Punkte“ im Raum dar, sondern lassen sich im Sinne der Möglichkeit ihrer je mentalen, handlungspraktischen und materialisierten Präsenz in anderen Ortskontexten als „mobilized places“ auffassen. Dementsprechend sind Mobilitäten als soziale Praxen der Bewegung keine als „ortlose Linien“ fungierenden Verbindungen sozial aufgeladener Punkte im gesellschaftlichen Raum, sondern können im Sinne ihrer Empfänglichkeit und Wertigkeit für mentale, praktische und materielle Präsenzen von Orten als „placed mobilities“ verstanden werden.[xii]
Forschungsstand und Forschungsbedarf
Dem Umfeld der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung zur Mobilität sind erst vor kurzen eine Reihe von Arbeiten entsprungen, die sich explizit auf die gesellschaftliche Relation von „places“ und „mobilities“ beziehen. Unter sozial- und moralpsychologischer Perspektive auf die Ambiguität zwischen mobilen Lebensweisen und ihren Identifikationsräumen sind insbesondere Zusammenhänge zwischen existenziellen Entgrenzungskapazitäten und lokalen Integrationsressourcen unter Bedingungen extremer Mobilität untersucht worden.[xiii] In ähnlicher Weise sind Beziehungen zwischen institutionellen Orten und neuen Mustern räumlicher Mobilisierung in den Blick genommen worden, um hieraus Rückschlüsse auf die Entwicklung von Kohärenzen gesellschaftlicher Funktionssysteme gewinnen.[xiv]
In Verbindung mit der Migrationsforschung, stadtsoziologischen Themen und gesellschaftswissenschaftlicher Globalisierungsdebatte geht seit den neunziger Jahren ein wachsende Beschäftigung mit der Entstehung transnationaler bzw. interkultureller Identitätsregimes und ihrer sozialräumlichen Milieus einher.[xv] Mit Blick auf unterschiedliche nationalstaatliche, soziale und ethnische Differenzstrukturen wird darauf verwiesen, dass auf der Basis multilokaler Raumerfahrungen globaler Akteure neue Sozialkontexte entstehen, in denen die „die jeweilige Verortung in Nah- und Fernräumen nicht selbstverständlich gegeben“, sondern „auf allen Ebenen erst herzustellen“[xvi] ist. Dabei konnte aufgezeigt werden, dass Mobilität keineswegs die soziale Bedeutung von Orten untergräbt, sondern diesen als „Fluchtstätten“ und „Ankerpunkte“ eine nach wie vor hohe Bedeutung zukommt.[xvii] Neueren ethnologischen und soziologischen Forschungen zufolge erweist es sich daher als „Mythos, dass besonders mobile Menschen zugleich am deutlichsten durch die Erfahrung von Ortlosigkeit geprägt seien“[xviii]
Im Anschluss an die Formulierung eines „global sense of place“ (Massey) stehen mit den dynamischen Wechselbeziehungen zwischen ortsprägenden Eigenschaften von Mobilitäten und mobilitätsprägenden Eigenschaften von Orten Evidenzen einer „kinetischen Hierarchie“ räumlicher und sozialer Ungleichheiten zur Disposition, die bislang nur fragmentarisch untersucht worden sind. Damit ließe sich nicht zuletzt eine stärkere Einbettung von Mobilität in den weiter gefassten räumlichen Kontext von technischen Umwelten und soziokulturellen Praktiken bewerkstelligen.[xix]
Fragestellungen und Ausgangshypothesen
Das zentrale Interesse gilt einem zirkulären Fragekomplex: Durch welche Mobilitätsdiskurse ist die gegenwärtige sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Raum geprägt? Wie werden im Feld der Mobilität soziale Orte wahrgenommen, verändert und konstituiert? Inwiefern ist das Zusammenspiel von extremen Mobilitäten und multiplen Ortsreferenzen als sozialer Raum charakterisierbar? In welcher spezifisch-direktionalen Weise sind in hochmobilen sozialräumlichen Kontexten kulturelle Praktiken mit der Nutzung mobilisierender Technologien verknüpft? Und schließlich: In welcher Beziehung stehen die daraus resultierenden Diskurse mit gesellschaftswissenschaftlichen Konzepten zur Mobilität?
Damit verbindet sich die Analyse sozialtheoretischer Mobilitätsdiskurse mit exemplarischen Untersuchungsfeldern, die sowohl durch besonders hohe Mobilitätsintensitäten als auch multilokal und transglobal angelegte Raumstrukturen geprägt sind. Beide bilden Analyseeinheiten bilden den Rahmen für die raumsoziologische Problemstellung, in welchem Umfang und auf welche Weise unter Bedingungen einer Praxis der Hypermobilität Orte integriert, überprägt und neu generiert werden.
Zentrale Arbeitshypothese ist die Annahme, dass unter Bedingungen extremer Mobilität Orte keineswegs ihre soziale Bedeutung, sondern ihre „orthodoxe“ Form als kohärente, abgrenzbare „Identitätsregimes“ verlieren. Multilokale, ephemere und diskontinuierliche Raumerfahrungen gehen mit Aneignungsstrategien einher, in denen Orte zu pervasiven und kontingenten Elementen sozialer Identitätsmuster verknüpft werden. Sowohl mobile Kommunikations- und Transportmittel als auch die „mitgenommenen“ lokalen Bezüge werden zu alltäglichen Orientierungsbereichen und somit zu „beweglichen“ Orten. Der mobile Blick bildet hierbei den sozialen und kognitiven „Filter“, durch den Orte im Unterschied zu einer andersartig reduzierten Binnenperspektive wahrgenommen und konstituiert werden. Mobilität als sozial produzierte Bewegung bringt eine grundlegend veränderte Wahrnehmung von Orten mit sich, die nicht zu deren Auflösung, sondern einer tiefgreifenden Veränderung ihrer sozialen Kontextualität führt. Der Homogenisierung des globalen Raums durch zirkuläre Verbreitung von materiellen und symbolischen „Ähnlichkeiten“ wird damit die These einer Heterogenisierung seiner sozialen Wahrnehmung und Imagination entgegengesetzt, welche durch die wachsende Differenzierung von Mobilitätsformen und ihrer jeweiligen Intensitäten und Intentionen noch befördert wird.
Im Feld hochmobiler Sozialkontexte ist die Nutzung von Transport- und Kommunikations-Technologien aufs Engste mit kulturellen Alltags-Praktiken verknüpft, über die Ortsbezüge neu aufgebaut und aufrechterhalten werden müssen. Diese Hybridisierung von Kultur und Technik befördert die Entstehung sozialer Räume, deren Qualitäten sich weder durch fluide noch durch lokal fixierte Texturen zufriedenstellend beschreiben lassen, sondern technologisch ermöglichte Koinzidenzen und Verlagerungen von Orten beinhalten, deren Relevanzen durch den Tatbestand „physischer Abwesenheit“ keineswegs gemindert werden, sondern gerade in der besonderen sozialen Struktur mobiler Lokalisierungen bestehen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die eingangs besprochene Antinomie innerhalb gesellschaftswissenschaftlicher Diskurse um Orts- und Mobilitätskonzepte wieder aufgreifen: Die Kluft zwischen „roots“ und „routes“ als exklusive Entitäten in der Theorie sozialer Räume bezeichnet eine Diskursformation, welche angesichts der im Rückgriff auf kritische Einwände seitens der Radical Geography und der neueren Anthropologie der Mobilität getroffenen Thesen zum sozialen Verhältnis von Mobilität und Ort überdenkenswert erscheint. Danach stehen, so die abschließende Annahme des Thesenzirkels, die diskursiven Raum- und Selbst-Beschreibungen hochmobiler Menschen in einem offenen Widerspruch zu den polaren Mobilitäts-Konzepten soziologischer Raumtheorien.
Methoden und Untersuchungsfeld
Das konkrete Untersuchungsfeld setzt sich aus Personen zusammen, deren Lebensumfeld von ständiger globaler Mobilität und dem Fehlen einer dominierenden Bindung an einen einzelnen zentralen Wohnort geprägt ist.[xx] Die Rekrutierung der Interviewpartner ist bereits teilweise erfolgt, wobei in einem sondierenden Austausch über das thematische Umfeld der Befragung und deren Auswertungskontext informiert wurde. Um eine möglichst breite Datenbasis zu erhalten, wurde nach anfänglichen Vorüberlegungen die Reduktion auf bestimmte Berufsgruppen verworfen.
Zur Untersuchung von Kontexten zwischen Orten und Mobilitäten sollen zwei aufeinander aufbauende qualitative Verfahren bemüht werden. Zunächst ist beabsichtigt, auf Grundlage der Feldtheorie Lewins themenzentrierte Interviews mit egozentrierten Netzwerkzeichnungen zu verbinden.[xxi] Der Rückgriff auf die topologische Psychologie bietet sich aus Gründen ihrer ausgesprochenen Nähe zur Sozialphänomenologie und der Möglichkeit zur räumlichen Abbildung von sozialen Wahrnehmungs- und Konstitutionsprozessen an.[xxii] Durch sie wird es möglich, umweltpsychologische Akzente von „Lebensräumen“ und der darin aufgehobenen mentalen und physischen Bewegungen in einen direkten Bezug zu makrosoziologischen Annahmen und Befunden zu stellen. Wichtigster Anhaltspunkt bildet hierbei Lewins Konzept eines „hodologischen Raums“, der als Wegeraum ein mobilitätsorientiertes Instrument zur Abbildung von akteurszentrierten Sozialtopologien anbietet, durch die sich Direktionen und Abfolgen, soziale Distanzen und Netzstrukturen abbilden lassen.[xxiii] Durch problemzentrierte, z.T. internetbasierte und prozessual angelegte Interviews sollen neben personalen Motivationsstrukturen vor allem zentrale (technische, kulturelle, soziale, emotionale) Aspekte der mobilen Lebensorganisation, ihrer räumlichen Strukturen sowie ihrer Einbettung in weitere sozialräumliche Kontexte in Erfahrung gebracht werden.[xxiv] Mittels der Anfertigung egozentrierter Topographien sollten darüber hinaus unterschiedliche soziale Kontexte von Orten und räumlichen Bewegungen (z.B. durch die Unterscheidung topozentrischer, polyzentrischer, linearer und zirkulärer Mobilitätsnetzwerke) leichter verständlich gemacht werden können.[xxv] Zweite methodische Säule bildet eine vergleichende wissenssoziologische Diskursanalyse, durch die Befragungsergebnisse mit eigenen Recherchen zum Erfahrungs- und Organisationskontext hochmobiler Personen abgeglichen und schließlich mit gesellschaftswissenschaftlichen Beiträgen zur sozialräumlichen Beziehung von Ort und Mobilität konfrontiert werden sollen. Anknüpfungspunkte bilden jüngere methodische Anschlüsse an die Theorie der Praxis Bourdieus sowie das Diskurskonzept Foucaults, durch die es möglich wird, wissensbasierte Praktiken und Dispositive der Mobilität aufeinander zu beziehen.[xxvi] Durch induktives Vorgehen werden themenbezogene Diskursfragmente sowie Aussagen zur mobilen Praxis aus Untersuchungsfeld und Theorie gebündelt und auf eine wissenssoziologisch handhabbare Vergleichsebene überführt. Ziel dieser Methode ist es, wesentliche Gemeinsamkeiten und Widersprüche eingenommener Positionen zur Wahrnehmung und Konstitution von hochmobilen Lebenswelten herauszuarbeiten und hierdurch schließlich eine Gesamtbeurteilung der Projekthypothesen zu ermöglichen.
Literatur
Ahrens, D.: Grenzen der Enträumlichung. Weltstädte, Cyberspace und transnationale Räume in der globalisierten Moderne. Opladen 2001
Graduiertenkolleg
"Topologie der Technik"
Technische Universität Darmstadt
Postadresse
Dolivostr. 15
64293 Darmstadt
Sprecherin
Prof. Dr. Petra Gehring
Institut für Philosophie
gehring(at)phil.tu-darmstadt.de
Telefon: +49 (0)6151 16-57333
Sprecher
Prof. Dr. Mikael HÃ¥rd
Institut für Geschichte
hard(at)ifs.tu-darmstadt.de
Telefon: +49 (0)6151 16-57316
Besucheradresse Koordination
Landwehrstr. 54
S4|24 117
Telefon: +49 (0)6151 16-57365
Fax: +49 (0)6151 16-57456
Anne Batsche
Di-Fr 10-15 Uhr
topologie(at)ifs.tu-darmstadt.de
Marcel Endres
Mo-Mi 8.30-15.30 Uhr
endres(at)gugw.tu-darmstadt.de
Besucheradresse Stipendiaten
Landwehrstr. 54
S4|24 106–112
Telefon
+49 (0)6151 16-57444